Saaltext zur Ausstellung von Micha Aregger und Anita Sieber Hagenbach in der Galerie anixis
Micha Aregger und Anita Sieber Hagenbach verbindet eine fast 20-jährige Freundschaft. Sie stellen bereits zum sechsten Mal in einer gemeinsamen Gruppenausstellung aus, dies ist nun die erste Ausstellung nur zu zweit.
Sie beziehen zwei sehr unterschiedliche Kunstpositionen und diese Zusammenarbeit mag auf den ersten Blick verwundern, bei einer genaueren Betrachtung sind allerdings überraschende Berührungspunkte in ihren Arbeiten zu finden.
Zum Ort
In diesem Ort, dem ehemaligen Bahnhof Oberstadt, kamen schon immer Personen für eine gewisse Zeit zusammen. Diese Begegnungen können zufällig oder geplant, flüchtig oder prägnant gewesen sein. In dieser Ausstellung darf man ebenfalls Ankommen, Warten, Begegnen, Durchwandern, Aufbrechen, neue Horizonte entdecken.
Der Name der Galerie «anixis» ist Griechisch und bedeutet «Öffnung» oder «Frühling». Kunst kann ebenfalls Augen öffnen, Herzen berühren, den Geist zu Wachstum anspornen.
Micha Aregger: Natur als Vorbild
Wachstum und Naturreich ist ein zentrales Thema von Micha Areggers Arbeiten. Seine Ideen findet Aregger beim Beobachten von Naturobjekten, in deren Strukturen, Formen und Ordnungen. Das können vermeintlich unspektakuläre und oft übersehene Objekte sein wie Blumenkohl, Pilze, Rasenstücke, sogar Erdklumpen.
Durch Weiterentwicklungen wie Vergrösserung, Wiederholung, Verstärkung, manchmal auch Verfremdung, entstehen daraus neue, überraschende Kunstobjekte. Die sich wiederholenden Strukturen, die Fraktale, werden im Kleinen beobachtet, angeeignet und weitergedacht, sodass sich dieselben Strukturen in immer höheren Dimensionen wiederholen. Ähnlich wie bei der Fibonacci-Reihe können die Iterationsschritte stufenweise erweitert werden, im Grossen wie im Kleinen erkennt man dieselben Grundstrukturen wieder.
Im zweiten Raum entdeckt man beispielsweise beim Werk «Karfiol Cumulus», mit der Erscheinung eines gigantischen, schwarzen Blumenkohls, dass sich dieser aus vielen kleineren Blumenkohlköpfen kumuliert und auch diese sich jeweils in ähnlich kleine Strukturelemente aufteilen lassen.
Mit der persönlichen Überzeugung, dass dahinter tiefere Bedeutungen, eine höhere Intelligenz, ein Schöpfer dahinter steckt, weist Aregger bewundernd auf die Schönheit und den Kunstgehalt der Natur hin. Er bezeichnet sein Vorgehen selbst als «Werkspionage», wobei er den tieferen Bauplan der Naturobjekte zu entschlüsseln und anschliessend wieder neu zu verschlüsseln bestrebt ist. Das von Aregger gewählte Material, der Kunststoff, mag dabei irritieren, das Natürliche und das Menschgemachte werden in ein Spannungsfeld gesetzt.
In der Werkserie «Fruchtkörper» stehen Wannen, welche mit Erde gefüllt sind. Sie sind mit Bibelasche als Nährstoff angereichert. Aus einer Wanne wachsen fadenförmige Zellfäden empor, sie erinnern an Hyphen des Pilzmycels, welche sich geflechtartig im Erdreich ausbreiten und sich allmählich verdichten. Die reiche Formenvielfalt der Fruchtkörper sorgt dabei immer wieder für Überraschungen, so wie in der zweiten Wanne sichtbar. Die dritte Wanne ist leer, doch voller Möglichkeiten für Wachstum. Das Potential schlummert noch im Verborgenen, in der Vorstellung der Betrachtenden.
Die vermeintlich natürlichen Objekte stehen isoliert in einem Kunstraum. Altbekanntes, Alltägliches und Banales erhalten durch die kunstvolle Verfremdung eine neue Bedeutung, auch eine neue Betrachtungsweise. Man wird auf die überraschende Komplexität der Naturformen aufmerksam gemacht und zum Nachdenken angeregt.
So werden die Sehgewohnheiten der Betrachtenden herausgefordert, auf eine Entdeckungsreise zu gehen und die Naturwelt ebenfalls ganz neu wiederzuentdecken.
Anita Sieber Hagenbach: Berührung und Verbindung
Neue Sichtweisen eröffnen möchte auch Anita Sieber Hagenbach durch ihre Objekte und Bilder. Auch sie verwendet aussergewöhnliche Materialen und spielt mit der Irritation der Wahrnehmung.
Schleifpapier und Schleifmehl, eigentlich kunstferne Materialien, höchstens deren Werkzeuge respektive Abfallprodukte, werden in ihren neusten Bildern und Objekten integriert, nehmen sogar eine zentrale Stellung darin ein. In der dreiteiligen Serie «Taktile Bilder» werden die rauen Oberflächen der Schleifpapiere zu den Bildträgern, die vergangenen Schleifvorgänge darauf sind als Spuren noch klar sichtbar. An dieser Oberfläche können auch wir Betrachtende unseren Blick oder auch unser Finger reiben, das Berühren ist hier ausdrücklich erlaubt. Ebenfalls zu ertasten sind die herausragenden Punkte aus Schleifmehlmasse, welche zu Buchstaben der Braille, der Blindenschrift, zusammengesetzt wurden. Die geformten Begriffe erzählen von menschlichen Beziehungen, Wahrnehmungen und Wünschen. Der Mensch und seine Reibungsflächen werden hier sichtbar, lesbar und spürbar gemacht.
Das Mobile im zweiten Raum mit dem Titel «Von Reibung zur Berührung», bestehend aus frei herabhängenden menschlichen Figuren, ebenfalls aus Schleifmehl geformt, bilden immer wieder neue Kompositionen und Formationen. In der Bewegung drehen sie sich, berühren sich sanft. Die Scheiben aus unterschiedlichen Schleifpapieren, welche über den Köpfen schweben, gleichen Heiligenscheinen und prägen ihre ganz eigenständige Geschichte. Die Schwere des gemeinsamen Ringens oder die Leichtigkeit eines gemeinsamen Tanzes, die Deutung lässt Raum in beide Richtungen.
Das Ringen um das Bewältigen von gemeinsamen Konflikten wird auch in den Arbeiten «Cà et Là» und «Ceux-Ci et Celle-Là» deutlich. Der Mantel wurde aus Zeitungen aus aller Welt vernäht und verwoben. Inhaltlich erzählen die Zeitungsblätter von den menschlichen Tragödien der Flüchtlingsproblematik. In der zweiten Arbeit wurden unterschiedliche Regionalzeitungen mit Artikeln zur Covid-Pandemie zu einem Hut verarbeitet. Im Innern beider Kleidungsstücke sind die goldfarben schimmernden Rettungsdecken erkennbar, kostbar, wärmend, reflektierend, vielleicht auch verbindend und versöhnend. Inmitten der Nöte, Kämpfe und Ratlosigkeit steht hier der Wunsch nach Zusammenhalt, Schutz und Gemeinschaft.
Eine spannende Verbindung entsteht bei diesen Arbeiten zum Modedesignduo Yolanda und Pino Oliverio, welche die Hälfte der Räumlichkeiten nutzen für ihren Mode- und Interieurladen. Vielleicht entstehen auch hier überraschende Begegnungen von Material, Farben und Formen.
Entdeckungsreise
Das Verbindende zwischen den Werken von Micha Aregger und Anita Sieber Hagenbach könnte im Hinterfragen des Sichtbaren liegen. Was ist sichtbar – und was liegt dahinter verborgen? Auch der Künstler Paul Klee bemerkte: «Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.»
Vielleicht liegen hinten dem Sichtbaren neue Sichtweisen, neue Horizonte verborgen. Gemeinsam erkennt man oft mehr von der Landschaft, die an einem vorbeizieht, wenn wir miteinander unsere Beobachtungen teilen und zusammen darüber staunen können. Micha Aregger und Anita Sieber Hagenbach laden uns hier ebenfalls auf eine Reise ein, eine Reise, wohin kein Zug hinführen könnte.
2022 Karin Arnet, Künstlerin/Kunstvermittlerin